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Die Kunst des Liebens

„Ist Lieben eine Kunst? Wenn es das ist, dann wird von dem, der diese Kunst beherrschen will, verlangt, dass er etwas weiß und dass er keine Mühe scheut. Oder ist Liebe nur eine angenehme Empfindung, die wir rein zufällig erfahren, etwas das uns sozusagen ‚in den Schoß fällt‘ wenn wir Glück haben? {…} Die Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht noch immer vor – trotz der geradezu überwältigenden Gegenbeweise. Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so ungeheuren Hoffnungen und Erwartungen begonnen wird und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe. Wäre das auf einem anderen Gebiet der Fall, dann würde man alles daran setzen, die Gründe für den Fehlschlag herauszufinden und in Erfahrung zu bringen wie man es besser machen könnte – oder man würde aufgeben. Da letzteres im Falle der Liebe unmöglich ist, scheint es doch nur einen richtigen Weg zu geben, um ein Scheitern zu vermeiden: Die Ursachen für das Scheitern herauszufinden und außerdem herauszufinden, was ‚lieben‘ denn eigentlich bedeutet. {…}

Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg ist, sich klarzumachen dass Lieben eine Kunst ist, genauso wie Leben eine Kunst ist. Wenn wir lernen wollen zu lieben, dann müssen wir genauso vorgehen, wie wir das tun würden, wenn wir irgendeine andere Kunst (zum Beispiel Musik, Malerei oder das Tischlerhandwerk) lernen wollten. Dies erfordert Geduld, Disziplin und vor allem Gespür für sich selbst {…}

Die Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas dem man verfällt. Ganz allgemein kann man den aktiven Charakter der Liebe so beschreiben, dass man sagt: sie ist in erster Linie ein Geben und nicht ein Empfangen {…} Denn gerade im Akt des Schenkens erlebe ich meine Stärke und meinen Reichtum. Ich erlebe mich selbst als überströmend, hergebend, lebendig und voll Freude. {…}

Der wichtigste Bereich des Gebens liegt im zwischenmenschlichen Bereich. Was gibt ein Mensch dem anderen? Er gibt etwas von sich selbst, vom Kostbarsten, was er besitzt. Er gibt etwas von seinem Leben. Das bedeutet nicht unbedingt, dass er sein Leben für andere opfert. Sondern dass er dem anderen etwas von dem gibt, was in ihm lebendig ist. Er gibt etwas von seiner Freude, seinem Interesse, seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor, von seiner Traurigkeit – von allem, was in ihm lebendig ist. Indem er dem anderen auf diese Weise etwas von seinem Leben abgibt, bereichert er ihn, steigert er beim anderen das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt damit das Gefühl des Lebendigseins auch in sich selbst. Doch er gibt nicht, um selbst zu empfangen. Das Geben ist an und für sich eine erlesene Freude. Indem er gibt, kann er nicht umhin, im anderen etwas zum Leben zu erwecken und dieses zum Leben Erweckte strahlt auf ihn zurück. Wenn jemand wahrhaft gibt, dann wird er ganz von selbst etwas zurückempfangen. Zum Geben gehört, dass es auch den anderen zum Geber macht und beide haben ihre Freude an dem, was sie zum Leben erweckt haben. Im Akt des Gebens wird etwas geboren, und die beiden beteiligten Menschen sind dankbar für das Leben, das für sie geboren wurde. Für die Liebe bedeutet dies: Die Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt. {…}

Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben. Liebe ist auch die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben. Neben der Fürsorge gehört auch das Verantwortungsgefühl zur Liebe, das in seiner wahren Bedeutung etwas völlig Freiwilliges ist: Es ist meine Antwort auf die ausgesprochenen und unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Sich für jemanden ‚verantwortlich‘ zu fühlen, heißt fähig und bereit sein zu antworten.

Das Verantwortungsgefühl könnte leicht dazu verleiten, den anderen beherrschen und besitzen zu wollen, wenn eine dritte Komponente der Liebe nicht hinzukommt: die Achtung vor dem anderen. {…} Sie bezeichnet die Fähigkeit, den anderen so zu sehen, wie er ist und seine einzigartige Individualität wahrzunehmen. Achtung bezieht sich darauf, dass man echtes Interesse daran hat, dass der andere wachsen und sich entfalten kann. Ich will, dass der andere um seiner selbst willen und auf seine eigene Weise wächst und sich entfaltet um seiner selbst Willen und nicht mir zuliebe oder wie ich ihn als Objekt zu meinem Gebrauch benötige. Es ist klar, dass ich nur Achtung vor einem anderen haben kann, wenn ich selbst zur Unabhängigkeit gelangt bin, wenn ich ohne Krücken stehen und Laufen kann – und es nicht nötig habe, den anderen zu benutzen oder auszubeuten. {…}

Achtung vor einem anderen ist nicht möglich ohne ein wirkliches Kennen des anderen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl für einen anderen wären blind, wenn sie nicht von Erkenntnis geleitet würden. Und meine Erkenntnis wäre leer, wenn sie nicht von der Fürsorge für den anderen motiviert wäre.

Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Ich transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist. {…} Die Liebe ist deshalb nur möglich, wenn zwei Menschen sich aus der Mitte ihrer Existenz heraus verbinden, wenn sich also zunächst jeder selbst aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur dieses ‚Leben aus der Mitte‘ ist menschliche Wirklichkeit, nur hier ist Lebendigkeit. Nur hier ist die Basis der Liebe.

Erich Fromm, 1956