Stell Dir vor, Du verbringst Dein Leben in einer kleinen, dunklen Kammer. Das einzige, kleine Fenster ist verschlossen und so schmutzig, dass kaum Licht hindurchkommt.
Alles was außerhalb Deiner Kammer passieren würde, könntest Du nur verzerrt wahrnehmen: All die schemenhaften Gestalten, die am Fenster vorbeihuschten und die dunklen Schatten, die sie im vorrübergehen auf Dein Fenster werfen würden. Und während Du so alleine in Deiner Kammer säßest, würdest Du wahrscheinlich die Welt für einen sehr düsteren, trübseligen und vielleicht sogar furchteinflößenden Ort halten.
Nehmen wir an, dass eines Tages etwas Regenwasser in Deine Kammer hereinspritzt und Du eine kleine Ecke des Fensters mit einem Lappen (oder Deinem Ärmel) säuberst. Etwas von dem Schmutz auf der Fensterscheibe löst sich und plötzlich dringt ein kleiner Lichtstrahl in Deine Kammer. Du wirst neugierig, und durch das beständige Reiben entfernst Du noch mehr Schmutz, so dass immer mehr Licht hereinströmt. Und Du denkst Dir „Vielleicht ist die Welt gar nicht so dunkel und trübselig. Vielleicht liegt es am Fenster…“
Und so beginnst Du, das gesamte Fenster von Staub und Schmutz zu reinigen, so dass das Sonnenlicht in die Kammer strömen kann und sie erhellt. Und Du erkennst vielleicht zum ersten Mal, dass die vorbeieilenden Schatten gar nicht düster und trübselig sind. Du siehst, dass es Menschen sind, die da an Deiner Kammer vorbeilaufen. Menschen – so wie Du. Und in Dir steigt die Sehnsucht auf, hinauszugehen und Dich unter diese Menschen zu begeben. Sie zu beobachten, vielleicht Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Unter ihnen zu sein.
Und plötzlich wird Dir klar: In Wahrheit hast Du gar nichts verändert. Die Welt, die Menschen und das Licht waren immer da. Du konntest sie nur nicht sehen, weil Deine Sicht getrübt bzw. verdunkelt war. Und nun, da Du alles siehst, ist alles anders geworden. Und Du kannst sehen, dass Du ein Teil der Welt bist. Umgeben von Menschen, deren Sicht vielleicht manchmal auch etwas getrübt ist…
In diesem Moment – wenn die Sicht beginnt klar zu werden – erwacht das Mitgefühl in uns. Mitgefühl als angeborene Fähigkeit, uns mit anderen Wesen zu identifizieren und sie zu verstehen, ein „ethisches Empfinden, das ein biologisches Merkmal unserer Spezies ist“.
Im Tibetischen wird Mitgefühl als nying-je bezeichnet und impliziert eine ‚unmittelbare Ausdehnung des Herzens‘. Vielleicht kommt das deutsche Wort ‚Liebe‘ diesem Verständnis am nächsten. Eine Liebe ohne die geringste Anhaftung und ohne die Erwartung, etwas zurückzubekommen. nying-je ist das spontane Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen – Menschen, Tiere, Pflanzen: Was Du fühlst, fühle ich. Was ich fühle, fühlst du. Es gibt keinen Unterschied zwischen uns. Denn wir alle sind fühlende Wesen und sehnen uns nach bedingungsloser Liebe und Angenommensein.
Je klarer wir die Dinge sehen (d.h. je bewusster wir uns unserer Selbst sind), umso mehr haben wir den Willen und sind fähig, unser Herz für andere Wesen zu öffnen und die Verbundenheit mit anderen zu fühlen.
Erkennen wir, dass andere Unglück oder Schmerz erleiden, weil ihre Sicht getrübt ist und sie ihre wahre Natur nicht erkennen, dann regt sich in uns oft der spontane Wunsch, dass andere das gleiche Gefühl von Klarheit und Mitgefühl erfahren mögen. Dieses Gefühl, das wir selbst schon kennengelernt haben.
Entfernen wir immer wieder den Schmutz von den uns einengenden Fenstern, damit das Licht hindurchscheinen kann und begeben wir uns immer wieder aktiv hinaus aus unserer ‚dunklen Kammer‘, dann lassen wir dadurch das Mitgefühl in uns aufsteigen (zuallererst das Mitgefühl für uns selbst) und lernen, wie stark und ungefährdet wir in Wirklichkeit sind.
Nying-je ist die Weisheit des Herzens. Es ist immer bei uns. Es war immer bei uns. Es wird immer bei uns sein.
Nying-je für alle fühlenden Wesen, die als Gefangene ihrer Illusionen leiden, bricht spontan und unmittelbar hervor.
Kalu Rinpoche, 2007