„Sprechen wir über den Sinn, dann meinen wir einerseits den konkreten Sinn einer Situation, mit der eine ebenso konkrete Person jeweils konfrontiert wird. Andererseits gibt es darüber hinaus auch den umfassenden Sinn. Dabei gilt: Je umfassender der Sinn, umso weniger fasslich ist er auch. Es geht da um den Sinn des Ganzen, um den Sinn des Lebens als eines Ganzen und ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemandes würdig ist, von vornherein auch nur die bloße Möglichkeit eines solchen universalen Sinns in Abrede zu stellen.
Wie verhält sich nun der konkrete Sinn einer Situation mit dem universalen Sinn? Ich möchte ein Gleichnis heranziehen: Denken wir doch nur an einen Film – er setzt sich aus Tausenden und Abertausenden von einzelnen Szenen zusammen und jede einzelne trägt an den Zuschauer einen Sinn heran; aber der Sinn des ganzen Filmes dämmert uns erst gegen Ende der Vorstellung – vorausgesetzt, dass wir zunächst auch einmal den Sinn jeder einzelnen Szene ‚mitbekommen‘. Und geht es uns im Leben nicht analog? Enthüllt sich uns der Sinn unseres Lebens, wofern überhaupt, nicht ebenfalls erst zuletzt? Und hängt dieser End-Sinn unseres Lebens nicht ebenfalls davon ab, ob wir zunächst einmal den Sinn jeder einzelnen Situation erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen?“
Da die ‚Verbindungsfäden‘ zwischen dem situativen und dem universalen Sinn so hauchzart sind, bleiben sie ‚wenig fasslich‘, praktisch unerfassbar für uns Menschen. Nur in Ausnahmefällen glitzern sie auf wie unsichtbare Spinnweben unter den schräg einfallenden Strahlen der Abendsonne.
Als den hervorstechendsten Ausnahmefall erachtete Viktor E. Frankl das nahende Lebensende. Ähnlich wie sich der Gesamtzusammenhang eines Films im Allgemeinen erst gegen Schluss des Films abzeichnet, enthüllt sich der Gesamtsinn eines Menschenlebens am ehesten in der Vorkammer des Todes. Einem Sterbenden mag dämmern, wozu er auf der Welt gewesen ist, worum er sich hauptsächlich bemüht hat, was er gestaltet und verändert hat, welche Botschaften er in die Welt hineingetragen hat, welches Vorbild er darin deponiert hat. Kurz: Was authentisch Seines war, das es ohne ihn niemals gegeben hätte. Plötzlich glitzern die geheimnisvollen ‚Verbindungsfäden‘ zwischen dem „End-Sinn“ des Lebens und jeder winzigen Szene aus seinem Leben im schwindenden Bewusstseins auf und geleiten in über die letzte Schwelle – in den numinosen, allumfassenden Sinn hinein…
So bedenken wir, die wir noch mitten im Leben stehen, dass wir quasi Regisseure eines Films sind, der gerade gedreht wird, und dass wir mit jeder heutigen Szene mitbestimmen, was morgen als Gesamtaussage über unser Leben in die Ewigkeit eingehen wird….
Viktor Frankl, 2007